Bochumer Oberbürgermeisterin Scholz fordert Verzicht auf Einzelfallprüfungen und Durchsetzung von Familientrennungen

In einem jetzt bekannt gewordenen Brief an NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft fordert die Bochumer Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz (SPD) gemeinsam mit anderen BürgermeisterInnen und Landräten aus dem Ruhrgebiet die Abschaffung von Einzelfallprüfungen vor Abschiebungen bei besonders diskriminierten Minderheiten, Alten und Kranken. Flüchtlinge sollen auch dann abgeschoben werden, wenn dadurch Familien auseinandergerissen werden, heißt es in dem Schreiben, auf das die Bochumer Linksfraktion aufmerksam machte:

Wir erwarten jedoch vom Land, dass die Vorraussetzungen, bestandskräftig abgelehnte Asylbewerber in ihre Heimatländer zurückzuführen, nicht unnötig und auf dem Verwaltungswege für Nordrhein-Westfalen erschwert wird.

Nicht nur nicht hilfreich, sondern geradezu kontraproduktiv sind Erlasse, die darauf abzielen, im Nachgang zu bestandskräftig festgestellten Ausreiseverpflichtungen noch einmal in Einzelfallprüfungen einzutreten und Familienverbünde nicht auseinanderzuziehen. (S. z.B. Erlasse vom 22.12.2014 15-39.13.09-3-14-404(2603) und 21.09.2010 15-39.13.09-5-10/128)

Dazu nimmt der Flüchtlingsrat NRW wie folgt Stellung:

[…] Der erstgenannte Erlass soll an dieser Stelle kurz zusammengefasst werden. Er weist auf die schwierigen Lebensbedingungen von Angehörigen der Volksgruppen der Roma, Ashkali und Ägypter bei ihrer Rückkehr in den Kosovo, in die Republiken Albanien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien hin und fordert die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ausländerbehörden dazu auf, bei besonders schutzbedürftigen Personen eine sorgfältige Einzelfallprüfung vorzunehmen, um unzumutbare Härten zu vermeiden. […] Der Erlass weist im Grunde nur auf die sowieso gegebene gesetzliche Verpflichtung der Ausländerbehörden hin, vor einer Abschiebung die rechtlichen und tatsächlichen Vollstreckungshindernisse zu prüfen. Erkrankungen und familiäre Bindungen können solche Hindernisse bei der Vollstreckung einer Abschiebung sein und müssen demnach Berücksichtigung finden,  denn natürlich haben auch abgelehnte Asylsuchende Rechte, die ihnen zustehen. […]
Erstaunlich ist zudem, dass andere Bundesländer Ende letzten Jahres die Kommunen nicht nur aufgefordert haben, ihre Arbeit bei den oben genannten Volksgruppen sorgfältig durchzuführen, sondern noch einen Schritt weiter gingen und Winterabschiebestopps erließen. Daher kann der von den Oberbürgermeistern und Landräten genannte Erlass der NRW-Regierung sogar bereits als abgeschwächt angesehen werden. […]

Darüber hinaus kritisiert der Flüchtlingsrat die im Brief vorgenommene Unterscheidung zwischen „guten“ Kriegsflüchtlingen und „schlechten“ sogenannten „Armutszuwanderern“. Berichte von Organisationen wie Pro Asyl zu Bulgarien  oder Amnesty International zu Rumänien zeigen überdeutlich, dass die genannten Länder derzeit nicht in der Lage sind, Flüchtlinge oder eigene Minderheiten wie etwa Roma angemessen unterzubringen und ihnen Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen sowie Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Die von den Unterzeichnern des Briefs vorgenommene Vermischung zwischen EU-Binnenmigration und Asyl lässt die Forderung, zulasten der „schlechten“ Flüchtlinge oder Migranten Plätze für „gute“ Flüchtlinge „freizuziehen“, zusätzlich unsachlich und irreführend erscheinen.

Die Ausdrucksweise der Oberbürgermeister und Landräte erweckt schnell den Eindruck, dass hier eine Unterscheidung in ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Flüchtlinge vorgenommen wird und legt die Frage nahe, ob diese Unterscheidung Folgen für das ihnen entgegengebrachte Maß an Fairness und Freundlichkeit oder die Form der Unterbringung hat. Es handelt sich bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen, nach Ansicht des Flüchtlingsrates NRW e.V., jedoch nicht nur um eine rechtliche „Verpflichtung“, sondern auch um eine humanitäre Verantwortung, die es zu übernehmen gilt.

Wenig hilfreich ist es zudem, in dem gemeinsamen Brief, der das Thema Flüchtlinge, deren Unterbringung und Rückführung behandelt, zusätzlich die EU-Binnenmigration ins Spiel zu bringen. Auch im öffentlichen Diskurs werden diese Themengebiete gern verwechselt und fördern nicht selten Ressentiments in der Bevölkerung.

Auch Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau hat den Brief mitgezeichnet und zog sich damit prompt den Beifall der rechtsextremen Onlineplattform DortmundEcho auf sich. „Die unterzeichnenden OberbürgermeisterInnen und Landräte machen sich zu Vertreter von Nützlichkeitslogik und Inhumanität und zum Sprachrohr von RassistInnen und Nazis“, kommentiert Refugees Welcome Dortmund zutreffend.

Ministerpräsidentin Hannelore Kraft wies den Vorschlag laut Informationen der studentischen Zeitung akduell zurück. In dem Antwortschreiben heißt es:

Nach meiner Überzeugung sollte der Entscheidung über die Rückführung aus humanitären Gründen in bestimmten problematischen Konstellationen bei besonders schutzbedürftigen Personen eine sorgfältige Einzelfallprüfung vorausgehen. […] Die Erlasslage zielt in diesen Fällen in Übereinstimmung mit dem Ausländerrecht auf einen sensiblen Ausgleich des staatlichen Rückführungsinteresses und den individuellen Belangen ausreisepflichtiger Personen. Diese Aspekte sollten auch in der aktuellen Situation nicht aus dem Blick geraten.

Abschiebung – Möglichkeiten und Grenzen der Verhinderung einer unmenschlichen Praxis

Einladung zu Vortrag & Diskussion: Mittwoch, 11. Februar 2015 – 18 Uhr – Bahnhof Langendreer (Raum 6)

Die Abschiebungspraxis deutscher Behörden ist für viele Asylsuchende traumatisierend. MitarbeiterInnen der Polizei und der Ausländerbehörden kommen, teilweise unangekündigt, nachts oder in den frühen Morgenstunden in die Flüchtlingsunterkünfte oder Wohnungen, um die Betroffenen zum Flughafen zu bringen. Diese haben meist nur eine halbe Stunde Zeit, um auszuwählen, was sie mitnehmen möchten. Dabei darf ihr Gepäck höchstens 20 kg pro Person betragen. Die Möglichkeit, sich von FreundInnen und Verwandten zu verabschieden oder einen Rechtsanwalt zu kontaktieren gibt es meist nicht. Insbesondere für Kinder sind solche Szenarien traumatisierend. Viele Organisationen und Initiativen kritisieren Abschiebungen deshalb als unwürdige und inhumane Praxis und auch in der Zivilgesellschaft regt sich zunehmend Widerstand. Dennoch wurden im Jahr 2013 insgesamt 10.198 Menschen aus Deutschland abgeschoben, ein Drittel mehr als noch im Vorjahr 2012.

Wir – der Treffpunkt Asyl, die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum, die Amnesty-Hochschulgruppe-Bochum, das Netzwerk Wohlfahrtstraße und der Bahnhof Langendreer – möchten das Thema Abschiebung genauer beleuchten und klären, was eine Abschiebung ist, wie sie abläuft, warum Flüchtlinge abgeschoben werden und welche Formen der Abschiebungsverhinderung es gibt. Dazu laden wir den Referenten Heinz Drucks, Vorstandsmitglied des Flüchtlingsrates NRW e.V. und die Rechtsanwältin Heike Geisweid zu einem Gespräch über die Möglichkeiten und Grenzen von Abschiebungsverhinderung ein. Ebenfalls anwesend sein wird ein Mitglied einer Gruppe aus Osnabrück, die bereits zahlreiche Abschiebungen erfolgreich verhindern konnte. Auch über Osnabrück hinaus wird es Berichte von den Erfahrungen bereits bestehender Bündnisse aus anderen Städten hören.

Ziel der Veranstaltung ist u.a. die Schaffung eines Bündnisses von lokalen Unterstützungsstrukturen für von Abschiebungen bedrohte Menschen.

Alle an dem Thema interessierten Einzelpersonen und Initiativen, die sich bereits aktiv gegen Abschiebungen engagieren oder dies anstreben, können am Mittwoch, den 11.02.2015 um 18:00 Uhr zum Bahnhof Langendreer (Raum 6) kommen und mit uns diskutieren.