Unser Redebeitrag zur Seebrücke-Demonstration in Essen am 13.07.2018

Mehr als 2200 Menschen demonstrierten am vergangenen Freitag laut Polizeizählung in der Essener Innenstadt für den Erhalt der Seenotrettung auf dem Mittelmeer. Die Demonstration war Teil der Bewegung Seebrücke, in deren Namen seit Juli tausende Menschen in ganz Deutschland auf die Straße gingen. Die Seebrücke ist eine internationale Bewegung, getragen von verschiedenen Bündnissen und Akteur*innen der Zivilgesellschaft. Sie solidarisiert sich mit allen Menschen auf der Flucht und fordert von der deutschen und europäischen Politik sichere Fluchtwege, eine Entkriminalisierung der Seenotrettung und eine menschenwürdige Aufnahme der Menschen, die fliehen mussten oder noch auf der Flucht sind.

Gemeinsam mit der Medizinischen Flüchtlingshilfe hat Treffpunkt Asyl bei der Demonstration die folgendene Rede gehalten:

Letzte Woche lag am Straßenrand eine Kiste, auf der stand „zu Verschenken“, darin habe ich einen Fotoband mit dem Titel „Die Menschenrechte“ gefunden. Wenn die Menschenrechte doch an jedem Straßenrand, in jeder Ecke der Welt zu finden wären! Leider weht der Wind aus einer ganz anderen Richtung. Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages auf einer Demo stehen und sagen muss, dass man Menschen nicht sehenden Auges ertrinken lassen darf. Nationale Gesetze und bilaterale Abkommen zersetzen die Menschenrechte und missachten sie aufs Widerlichste. Über 1400 Menschen, darunter viele Kinder, sind seit Beginn des Jahres ertrunken. Und nun, da die Schiffe der Seenotrettungsorganisationen festsitzen, kommen täglich unzählige Tote dazu, die eine anonyme Zahl bleiben, solange niemand sich für ihr Schicksal interessiert. Zu verschenken gibt es stattdessen Zynismus, Rassismus und Nationalismus. Für die Menschenwürde und Gleichheit aller müssen wir hingegen mit vereinigten Kräften kämpfen.

Wir werden niemals akzeptieren, dass Menschen einfach im Stich gelassen und dem Tod durch Ertrinken überlassen werden. Wir werden auch nicht zulassen, dass die einzigen, die die Zivilcourage und das Rückgrat haben, ihre Pflicht zu tun und den Menschen gegen alle Widerstände zu helfen, kriminalisiert werden und so ihre Arbeit verhindert wird. Deshalb sind wir heute hier zusammen gekommen!

Aber wer sind eigentlich diese Menschen, die fliehen, die unter Lebensgefahr auf den Schlauchbooten aufbrechen ohne zu wissen, was sie in Zukunft erwartet? Wer wird jemals die Geschichten, die Schicksale, die Gründe jener Ertrunkenen erfahren, fortzugehen? Wer erinnert sich an sie und ihre Namen, wenn Europa wegschaut und die Menschen ertrinken lässt? Man weigert sich, ihnen ein Gesicht zu geben, denn dann müsste man ja sehen, dass es sich um Menschen handelt wie du und ich, mit persönlichen Erfahrungen, Träumen und Wünschen…

Deshalb erinnern wir mit Blick auf die Opfer der Asyl- und Abschottungspolitik Europas an die Werte, für die Europa, für welche die Weltgemeinschaft eigentlich eintreten sollte – festgehalten in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

 

Artikel 1 (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit)                  

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Ich erinnere mich an Reza, der mir an einem Abend von seiner Fahrt über das Mittelmeer erzählte. Er wirkte selbst nach einigen Jahren in Deutschland ungläubig über das, was ihm passiert war. Er entschloss sich zur Flucht, da es ihm nach zwei Jahren Gefängnis und Folter unmöglich war, in Syrien zu bleiben. Sie fuhren noch nicht lange durch die Nacht und das Schlauchboot verlor bereits Luft. Das Wetter wurde schlechter und sie entschieden sich, mit einer Taschenlampe und ihren Handys in die Nacht zu leuchten in der Hoffnung, dass jemand sie entdecken würde, bevor es zu spät war. Die meisten Menschen auf dem Boot konnten nicht schwimmen. Endlich näherte sich in der Dunkelheit ein Schiff. Laut Reza muss es die libysche Küstenwache gewesen sein, die auf sie zufuhr. Die Menschen auf dem Boot gerieten in Panik und stürzten über Bord, als vom Schiff aus auf sie geschossen wurde. Reza sprang ebenfalls ins Wasser, um sich vor den Kugeln zu schützen. Er konnte schwimmen. 2 Stunden lang schwamm er zurück ans Ufer. Er überlebte. Was mit den anderen Menschen geschehen war, wusste er nicht. Vermutlich waren sie alle ertrunken.

 

Artikel 3 (Recht auf Leben und Freiheit) 

Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.

Kaum eine Frau konnte es schaffen, den Weg nach Europa anzutreten, ohne spätestens auf der Flucht Opfer einer Vergewaltigung oder von Menschenhandel zu werden. Ich erinnere mich an Anastasia, die aus Nigeria geflohen war. Kurz nach ihrer Ankunft war sie bei uns zu Gast. Beim Abendessen erzählte sie davon, wie ausgeliefert sie rings um sich her bewaffneten Milizen und Militärs war. Sie war keine schwache Frau, aber wie sollte sie sich da zur Wehr setzen? Vielleicht würde ihr Sohn irgendwann ebenfalls für eine Miliz wie Boko Haram kämpfen müssen. Auch deshalb hatte sie beschlossen, Guinea zu verlassen. Sie erzählte, welchen Preis sie für die Flucht bezahlt hatte: In der Wüste wurde sie von bewaffneten Milizen, die sie angeblich führen sollten, festgehalten und vergewaltigt. Für sich und ihren Sohn hofft sie noch immer auf ein besseres Leben.

 

Artikel 4 (Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels) 

Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in allen ihren Formen verboten.

Artikel 5 (Verbot der Folter)

Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Folter, Schläge, Missbrauch, Dreck, Krankheiten, Aussichtlosigkeit. Das sind die Zustände und Menschenrechtsverletzungen, welche die Situation in den Lagern in Libyen prägen. Trotz der Kenntnis über die Lager hat die deutsche Regierung keinerlei Skrupel, weiterhin mit der libyschen Regierung zu verhandeln und zusammen zu arbeiten.

Ich erinnere mich an Moktar, der irgendwo in der Wüste ohne Grund in einem Lager festgehalten wurde. Zum Apell mussten sie stundenlang in der Sonne stehen. Er musste mit ansehen, wie mehrere Menschen zusammenbrachen und verdursteten. Irgendwie ist er aus dem Lager rausgekommen und arbeitete eine Zeit in Libyen. Aber der Rassismus dort wurde Jahr für Jahr stärker, das Überleben immer schwieriger. Er schaffte es, das Meer zu überwinden, doch er erinnert sich an viele Menschen, die während seiner jahrzehntelangen Flucht gestorben sind. Er zeigte mir seine Narben aus dem Lager, von den Schlägen… Sie würden ihn für immer an diese Zeit erinnern.

 

Artikel 13 (Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit)

Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen.

Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.

Ich erinnere mich an die Geschichte von Edem und Mamadou, die von ihrer Zeit in den Wäldern bei Ceuta und Mellila erzählt haben. Sie waren aus Guinea vor den Milizen der Regierung geflohen. Sie hatten das Massaker im Stadion von Konakry überlebt. Fast 2 Jahre haben sie in den Wäldern von Marrocco unter Plastikplanen gelebt und sich von Müll ernährt. Regelmäßig mussten sie ihre provisorischen Hütten wegen Polizeirazzien verlassen. Sie überwanden die Zäune der Enklaven nur mit schweren Verletzungen und unter den Schlägen der Grenzpolizisten. Als sich ihnen die Gelegenheit zur Überfahrt bot, nutzen sie diese. Edem war mit 5 anderen  auf einem Boot, darunter 2 Freunde von ihm. Die Hoffnung war groß, denn der Weg war nicht weit. Doch ihr kleines Boot kenterte. Edem und einer der Freunde konnten sich über Wasser halten, bis endlich Hilfe kam. Die anderen 3 jedoch ertranken. Warum es ausgerechnet sie treffen musste, darauf wird es niemals eine Antwort geben.

 

Artikel 14 (Asylrecht)

Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.

Ein Entschluss zur Flucht fällt nicht leichterhand. Als Hussein und sein Sohn in Syrien in eine Schießerei gerieten, versuchten sie, davonzulaufen. Sein Sohn rannte über die Straße und schrie „Papa, hilf mir, ich will nicht sterben“. Da wusste Hussein, dass er fliehen musste. Seine Familie, seine beiden Söhne und seine Frau blieben zuerst in Syrien, an einem sichereren Ort. Hussein wollte nicht, dass sie das Risiko einer Flucht über das Mittelmeer eingehen.

Diese kleinen Einblicke in die Geschichten dieser Menschen und die Geschichten ihrer Flucht sollen heute stellvertretend für all diejenigen stehen, die nicht überlebt haben.

Das Meer darf nicht keine Grenze sein, an der Menschenwürde und ein Recht auf Rechte endet. Nationalismus darf nicht der Maßstab sein, an dem gemessen wird, wer das Recht auf ein menschenwürdiges Leben hat. Wir fordern eine Rückbesinnung auf globale Solidarität und die Anerkennung der Würde des Menschen, die auch in jeder einzelnen Lebensgeschichte und in jedem Schicksal festgeschrieben ist.

Darum muss die Seenotrettung als erste Pflicht vorrangig vor allen anderen weitergehen! Es kann keine Option sein, die Menschen mit illegalen Pushbacks in libysche Lager oder in die Wüste zu schicken. Es kann keine Option sein, die Rettungsboote festzusetzen, denn es ist ALLEN bekannt, was diese Menschen auf dem Meer oder anderswo erwartet.

Doch wir müssen und werden nicht untätig zusehen. Wir können Menschen auf der Flucht unterstützen. Wir können die Helfer*innen unterstützen, in ihren Organisationen mitarbeiten, Zeit und Geld spenden. Und wir alle können vor Ort in unseren Städten und Gemeinden für ein solidarisches Miteinander eintreten. In Bochum haben wir einen offenen Brief an unseren Oberbürgermeister geschrieben mit der Forderung, Menschen von der Lifeline in Bochum aufzunehmen. Denn wie in vielen anderen Städten auch, stehen Unterkünfte und Wohnungen teilweise leer – während Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken. Einige Städte, wie Berlin, Bonn und Nizza haben sich aufgrund von Druck aus der Zivilgesellschaft dazu bereit erklärt, Menschen von Seenotrettungsbooten aufzunehmen. Diese Städte müssen uns ein Vorbild sein! Unsere gelebte Solidarität ist die praktische Antwort auf den alten und neuen Rassismus und gegen eine sich einmauernde Gesellschaft und die Politik der Ausgrenzung.

Eine Antwort auf „Unser Redebeitrag zur Seebrücke-Demonstration in Essen am 13.07.2018“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert