Wir dokumentieren hier im Wortlaut unsere gemeinsame Petition mit dem Bochumer Initiativkreis Flüchtlingsarbeit zu unangekündigten Abschiebungen in Bochum, die heute an Oberbürgermeisterin Frau Dr. Scholz sowie an die beiden OB-Kandidaten, Herrn Eiskirch und Herrn Franz ging.
Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin,
im Jahr 2014 wurden mehr als 10.000 Flüchtlinge aus Deutschland abgeschoben. In vielen deutschen Städten, so auch in Bochum, werden Abschiebungen unangekündigt durchgeführt. Zumeist in den frühen Morgenstunden verschaffen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ausländerbehörde in Begleitung der Polizei zum Teil gewaltsam und ohne Vorankündigung Zutritt zur Wohnung der Betroffenen und überraschen sie im Schlaf.
Innerhalb kürzester Zeit müssen sie dann ihre Sachen packen, ohne zuvor ihre Familie, Freunde oder einen Anwalt kontaktieren zu können. Bei der Abschiebung von Familien kommt es darüber hinaus immer wieder zur Trennung der Familien, falls nicht die gesamte Familie angetroffen wird.
Dies stellt eine extreme emotionale und psychische Belastung für die Betroffenen dar, die oftmals schon in ihren Herkunftsländern und auf der Flucht traumatisierende Erfahrungen mit staatlicher Repression gemacht haben. Nicht selten wird das Eindringen der Polizei in den privaten Raum selbst Ursache einer (weiteren) Traumatisierung. Dies betrifft auch die Menschen, die neben den Betroffenen wohnen.
Da sie oft selbst jederzeit mit einer Abschiebung rechnen müssen, verstärkt das regelmäßige gewaltsame und unangekündigte Eindringen den psychischen Druck und emotionalen Stress für alle direkt und indirekt Beteiligten. Die ständige Ungewissheit, ob sie nicht selbst in der nächsten Nacht an der Reihe sind, hält damit den Stress und die vielfältigen Formen der Belastung permanent aufrecht.
Gerade für Kinder und Jugendliche, die in Deutschland zur Schule gehen und gut in ihr soziales Umfeld in Deutschland integriert sind, ist diese Behandlung besonders unerträglich: Ihnen bleibt dadurch die für ihr Umfeld vollkommen selbstverständliche Normalität verwehrt, zu wissen, ob sie am nächsten Tag wieder in die Schule gehen können und ihre Freundinnen und Freunde wiedersehen werden.
Unangekündigte Abschiebungen sind unvereinbar mit Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Wir fordern daher die dauerhafte Aussetzung aller unangekündigten Abschiebungen in Bochum.
Professionelle Stimmen:
Eike Leidgens, Diplom-Psychologe,
Therapiezentrum für Überlebende von Folter und Krieg, Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.:„Auf Basis wissenschaftlicher Studien ist davon auszugehen, dass bis zu 40 % der AsylbewerberInnen traumatisiert sind. Einige Schätzungen gehen sogar noch darüber hinaus. Das bedeutet, sie haben in ihrem Herkunftsland oder auf der Flucht ein oder mehrere so schreckliche Dinge erlebt, dass ihre eigenen
Bewältigungsmechanismen nicht ausreichen, um es adäquat zu verarbeiten. Nicht jeder Mensch entwickelt daraufhin traumareaktive Folgestörungen. Zwei der ausschlaggebenden Kriterien für die Entwicklung, z.B. einer Posttraumatischen Belastungsstörung, sind die fehlende soziale Unterstützung und das Stresserleben in der Zeit nach der traumatischen Erfahrung. Beides Faktoren, welche besonders bei Flüchtlingen stark ausgeprägt sind. Studien zeigen, dass mehr als 70% der Flüchtlinge, die eine traumatische Erfahrung gemacht haben, auch eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Das übertrifft bei weitem die Wahrscheinlichkeit der Ortsansässigen.
Ein weiteres wesentliches Symptom der Traumatisierung ist das ständige Leben in Unsicherheit und Angst. Dies wird ohnehin verstärkt durch das Aufenthaltsverfahren und die reale Bedrohung im Falle einer Rückkehr ins Herkunftsland. Aber das Aufenthaltsverfahren gilt auch als Stressor der dazu führt, dass auch auf lange Sicht, viele Menschen nicht die nötigen Bewältigungsmechanismen aufbauen können, um ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen und gesund zu werden.
Ein wesentlicher Teil des Stresses mit dem Aufenthaltsverfahren wird durch unangekündigte Abschiebungen verursacht. Unangekündigte Abschiebungen wirken sich mindestens zweifach negativ auf die Gesundheit traumatisierter Asylsuchenden aus: Zum einen besteht die Gefahr einer Retraumatisierung durch die plötzliche und unvorhergesehene Konfrontation mit den Vollzugsbeamten. In vielen Fällen kann gerade das Auftreten uniformierter Personen traumabezogene Flashbacks auslösen. Vor allem für Kinder kann auch das gewaltsame beziehungsweise energische Eindringen in den eigenen Wohnraum als eigenes potentiell traumatisches Erlebnis wirken.
Eine Abschiebung kann in jedem Fall starke gesundheitsschädigende Auswirkungen haben, eine vorherige Ankündigung kann diesen Effekt jedoch zumindest lindern. Zweitens kann sich die Praxis unangekündigter Abschiebungen auch negativ auf die Gesundheit der nicht direkt betroffenen AsylbewerberInnen auswirken, da die Gefahr einer Abschiebung für alle Menschen mit unsicherem Aufenthalt durch die Ungewissheit bedrohlicher wird. Eine Stabilisierung in der Psychotherapie wird dadurch erschwert. Unabhängig davon ob ihre Asylgründe schon geprüft worden sind, oder nicht. Damit sind die unangekündigten Abschiebungen ein wesentlicher Bestandteil der psychischen Beeinträchtigungen, verursacht durch das deutsche Asylverfahren. Wenn wir in der öffentlichen Debatte über die bessere psychologische Versorgung von besonders schutzbedürftigen und traumatisierten Flüchtlingen reden, oder über die steigenden Kosten der medizinischen Versorgung als Belastung der öffentlichen Haushalte, dann gilt es auch den Blick darauf zu richten, welche Praktiken der Behörden den Bedarf an psychologischer Versorgung unnötigerweise erhöhen.“
Birgit Naujoks, Juristin und Geschäftsführerin des Flüchtlingsrates NRW e.V.:
„Das Grundgesetz besagt, dass jeder das Recht auf Leben und Unversehrtheit hat und niemand wegen seiner Herkunft benachteiligt werden darf. Insbesondere Familien sollen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung stehen.
Diese Rechte sehe ich bei unangekündigten Abschiebungen verletzt. Aus humaner Perspektive sollte bereits selbstverständlich sein, dass die Kommunen in NRW den Zeitpunkt von Abschiebungen ankündigen, damit sich die Betroffenen auf die Ausreise vorbereiten und von Freunden und Angehörigen verabschieden können.
Eine Willkommenskultur, die sich viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, ohne die die Aufnahme von Flüchtlingen derzeit nicht funktionieren würde, wünschen, sollte sich an den Werten und Normen, die in unserem Grundgesetz formuliert sind, orientieren.
Derzeit handhaben die Kommunen in NRW Abschiebungen durchaus unterschiedlich und entscheiden sich in vielen Fällen für eine Ankündigung. Denn das Nichtankündigen einer Abschiebung bedeutet für die Betroffenen, dass die oft bereits durch ihre Flucht traumatisierten Personen in ständiger Angst leben müssen, in den frühen Morgenstunden abgeholt zu werden. Dieser belastende Zustand schürt in den Unterbringungseinrichtungen ein Klima der Angst. Auch gut integrierte, über viele Jahre in Deutschland geduldete Familien können bei unangekündigten Abschiebungen von einem Tag auf den anderen zwangsweise zur Ausreise gezwungen werden, was besonders für kleine Kinder sehr traumatisch sein kann.
In Bochum werden Abschiebungen zum jetzigen Zeitpunkt nicht angekündigt, was ganz im Sinne des Bundesinnenministeriums zu sein scheint. Klar ist jedoch, dass dieses Vorgehen Flüchtlinge unter den Generalverdacht stellt, sich der Maßnahme entziehen zu wollen. Es schürt Misstrauen in der Bevölkerung und führt in keiner Weise zu einer Verständigung untereinander.
In einer Zeit, in der Übergriffe auf Flüchtlinge täglich gemeldet werden, sollten die Kommunen, die Bundesländer und der Bund abwägen, welche Kräfte sie mobilisieren und welche Zeichen sie setzten möchten.“
Bitte überprüfen Sie die Abschiebungsverfahren und handeln Sie hummanitär!
Ich erwarte von der Stadt Bochum die Prüfung jedes Einzelfalls durch kompetente Sachbearbeiter und eine unseren humanitären und sozialen Standards angemessene Vorgehensweise. Die Bürger von Bochum sind offenbar mehrheitlich zu großem Engagement bereit und können erwarten, dass die Lokalpolitik dem Rechnung trägt.